Es wäre übertrieben zu sagen, Bad Tölz sei Anfang der 1980er Jahre vollkommenes kulturelles Ödland gewesen. Aber das beherrschende Bild waren schon die glatt gehobelten Bretter, auf denen die Brauchtumsgruppen ihre Tradition präsentierten. Brauchtum auch in dem Sinne, dass dies in dieser Zeit eben so gebraucht wurde. Gebraucht im Sinne einer Identifikation mit bestimmten Werten. Die konnten damals aber nicht alle teilen. Viele Menschen suchten die Kultur in Dingen, die aus einem ganz anderen Holz geschnitzt waren, sei es in der Musik, der Literatur oder dem Theater. Wer damals jung war, durfte sich schon glücklich schätzen, wenn das Jugendheim die Türen für eine Disco öffnete oder im Schletzbaum sich eine heimische Band an das Licht der Öffentlichkeit wagte. Insgesamt also keine wirklich gute Situation für ein modernes und kritisches Kulturleben. Doch irgendwann kam es, dass einige Menschen, die vielleicht auch aus diesem empfundenen Mangel weg von der Provinz in die großen Städte gegangen waren, mit neuen Erfahrungen in eben diese Provinz zurückkamen und sich mit dem dortigen Verhältnissen nicht mehr abfinden wollten. Viele dieser Rückkehrerinnen und Rückkehrer waren studierte Künstlerinnen und Geisteswissenschaftler, da lag es natürlich nahe, auf diesem Gebiet Impulse zu setzen und auch die Auseinandersetzung dort zu suchen. Verfolgten doch damals (heute ist das zum Glück nicht mehr so!) neue und alte Kultur fast genau entgegengesetzte Ziele. Ging es in der damaligen Brauchtumskultur darum, die bestehenden Strukturen zu festigen (damit alles so gut werde, wie man glaubte, dass es früher gewesen sei), sollte es in der neuen Kultur bevorzugt darum gehen, bestehende Strukturen aufzubrechen, damit der davon befreite Mensch in seiner eigentlichen Identität in die Zukunft gehen könne (wenn auch die Meinungen, wie diese Zukunft aussehen sollte, weit auseinander gingen). Der Mensch sollte Kunst nicht nur konsumieren, sondern wie u.a. Joseph Beuys lehrte, auch selbst tätig werden. Der Mensch sollte erfahren, dass er eben kein glattgehobeltes Brett und kein für den Zweck der gesellschaftlichen Brauchbarkeit erzogenes Wesen ist, dass er nicht immer nur äußeren Anforderugen genügen muss, dass er eben auch selber Künstler sein kann – wenn er nur in einem Raum ist, in dem er das tun kann, wozu er Lust hat.

Diese Aufforderung zur Lust war natürlich in Bad Tölz eine doppelte Provokation: zum einen landete nach der damalig vorherrschenden Maxime ein Mensch, der einfach nur das tut, wozu er Lust hat, früher oder später unweigerlich in der Gosse. Dort sitzt er dann und kassiert auf Kosten der rechtschaffenen Bürger Sozialhilfe. “Reiß dich zusammen!” war immer noch eine weit verbreitete Aufforderung an junge Menschen. Zum anderen war das Wort Lust geradezu von sexueller Obszönität eingewebt. So mancher Kurgast erhoffte sich in den Räumen der neu gegründeten Lust erotische Freuden, sah aber dann dort nur bekleidete Menschen und verließ so mit trauiger Mine das Klassenzimmer der Knabenschule. Der Name Lust war eine Provokation und das sollte es auch sein. Es funktionierte gut, auch gerade weil die Mitglieder des neuen Freundeskreises dem damit verbundenen Klischee überhaupt nicht entsprachen. Es waren vorwiegend gut situierte, gebildete Menschen, die vor und hinter den Kulissen intensiv gearbeitet haben. Man war auf ein gewisses Niveau bedacht, die wichtigste Droge war der Prosecco. Sexualität war eher ein Thema für die künstlerisch-politische Auseinandersetzung. – Nun ja, ob es wirklich immer dabei geblieben ist, weiß man nicht, es lässt sich aber festhalten, dass die wirklichen Ausschweifungen damals eher beim Fasching der traditionellen Vereine zu finden waren.

Die Akteure der Lust haben also nicht nur Lust gehabt, in Bad Tölz eine Initiative zu starten, sondern auch viel Schweiß und Mühen hineingesteckt. Nicht unbedingt ein Widerspruch. Bis der Freundeskreis sich im Oktober 1984 endlich an das Licht der Öffentlichkeit wagte, vergingen viele Monate intensiver, aber auch freudiger Vorbereitung. Doch dann war es endlich soweit. Lesen wir dazu den Tölzer Kurier:

Einen Förderkreis, der Menschen mit der Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur jedweder Stilrichtung zusammenführen möchte, haben in der Kreisstadt Bürger gegründet, die zum Teil selbst künstlerisch tätig sind, wie etwa Hans Reiser, Thomas Fischer und Wilhelm Werth, und die in ihrer Gesamtheit insbesondere auch zeitgenössische Kunst nicht nur konsumieren mochten, sondern mit Freude und Spaß auch selbst Kreativität entwickeln wollen. Freude an der Auseinandersetzung mit Kunst, wobei Veranstaltungen mit „Profis” den Anstoß zu kritischer Reflexion und zur Entfaltung eigener Fähigkeiten geben sollen – so ließe sich die Intention des Förderkreises grob umreißen, was seine Initiatoren bei der schwierigen Suche nach einem möglichst treffend charakterisierenden und eingängigen Namen auf das im deutschen Sprachgebrauch vielschichtige Wort „Lust” kommen ließ. Dieser Förderkreis „Lust”, der sich bewußt nicht als eingetragener Verein, sondern als eine offene, künstlerisch und kulturell interessierte Gruppe, als ein Forum für persönliche Kreativität versteht, hat von der Stadt Bad Tölz, ein ganzes Geschoß in der leerstehenden „Alten Knabenschule” am Jungmayrplatz angemietet und seit März mit sparsamen Mitteln, aber ganz beträchtlichem persönlichen Zeitaufwand der Mitglieder für seine Zwecke renoviert und umgestaltet. Die Gruppe „Lust” legt Wert auf Überparteilichkeit und will nicht in Konkurrenz zu bestehenden Einrichtungen der Erwachsenenbildung treten. Einerseits will man Veranstaltungen mit künstlerischem Format anbieten, andererseits sollen um dieses Gerippe eigene Aktivitäten wachsen, wobei es jedermann offensteht, sich selbst künstlerisch einzubringen” . Bejaht wird die Pluralität von Kunst und Kultur. Nicht zu sehr in den Vordergrund rücken soll das Wirken einzelner, besonders aktiver Gruppenmitglieder, weshalb es weder so etwas wie einen Vorstand noch wie eine Satzung gibt: Man möchte offen sein für gute Ideen neuer Mitglieder.

Tölzer Kurier vom 19.10.1984

Die Süddeutsche Zeitung suchte bei der Bedeutung des Namens “Lust” auch im Lexikon:

„Subjektiv wird Lust erlebt als Zustand des gesteigerten Befriedigtseins und Wohlbehagens”, heißt es im Lexikon, das mit dieser Definition recht genau die Vorstellungen der Gruppe umreißt. Sie möchte mit ihrem Angebot eine Lücke in Bad Tölz schließen, wo es Vergleichbares bisher nicht gab und schon deshalb das Interesse entsprechend groß sein dürfte.

Süddeutsche Zeitung vom 17.10.1998
Auf dem Bild von der ersten “Pressekonferenz” sehen wir von rechts nach links Barbara Basiner, Christine Thomae, ?, Thomas Fischer, Jochen Gern, Johanna Zantl, Stefan Evers, Wolfgang Basiner, ? und Hans Reiser

Das angekündigte Eröffnungsfest am 20.10.1984 fand dann auch statt, neben vielen Erwachsenen waren auch zahlreiche Kinder dabei, für die die “Schule” ein Ort der Freunde wurde. Die Erwachsenen bekamen gleich eine “Rolle”: sie wurden beim Herumlaufen der Kinder als Slalomstangen benutzt. Von einem dieser Kinder ist ein Zitat überliefert:

Eigentlich war alles toll. So etwas sollte es öfter geben.

Judith

Eintrittgelder wurden nicht erhoben, nur ein Spendentopf wurde aufgestellt. Der wurde allerdings von den Besuchern geflissentlich übersehen. Wahrscheinlich aus Lust am Dabeisein. Oder auch, weil die Besucher sich schon ein wenig als Künstler vorkamen.

Jürgen Reif