Jürgen Reif: Hanna, Du warst maßgeblich dabei als sich die „Lust“ im Oktober 1984 als Freundeskreis gegründet hat. Wie ist das vor sich gegangen, was war dein Anliegen?

Johanna Zantl: Ich habe in Freiburg Buchhändlerin gelernt und dann in Bad Tölz die Buchhandlung Winzerer eröffnet mit dem Plan, in Tölz kulturell etwas zu verändern. Ich hatte einen großen Hunger nach Filmen, Theater, Musik, Leute zu treffen. Ich wandte mich an Thomas Fischer einen Freund, der Kunstlehrer im Schloss in Reichersbeuern war. Das war im Sommer 1983 und wir haben geplant, was wir hier gemeinsam mit anderen kulturell verändern könnten. Auch er war begeistert von der Idee, in die Stadt neue Impulse zu bringen, auch mit Leuten von außen. Wir besprachen, wo wir räumlich unterkommen können, wie wir uns nennen würden, welche Veranstaltungen und welche Aktivitäten uns bereichern könnten. Und vor allem, wen wir dazu einladen sollten. Durch die Buchhandlung kannte ich interessierte Menschen. Und schließlich war am 24. Oktober 1984 das Eröffnungsfest der LUST in der Alten Knabenschule.

JR: Kannst du beschreiben welche Menschen dabei waren, welche Stimmung war und welche Pläne und Interessen es gab?

JZ: Es waren sehr unterschiedliche Menschen, aus verschiedenen Berufen, aus allen Altersstufen. Wir alle wollten unsere Stadt weiterentwickeln, ja, ich kann sagen, dass es eine echte Aufbruchstimmung gab. Die einen wollten vielleicht mehr politisch-kulturell Einfluss nehmen, die anderen sahen ihren Schwerpunkt in der Kunst, was ja nicht deutlich zu trennen war.

JR: Gab es auch Anfeindungen? Für damalige Verhältnisse war der Name „Lust“ ja durchaus provokativ – und ist es heute vielleicht auch wieder.

JZ: Da hat es schon Menschen gegeben, für die der Begriff, der Name „Lust“ eine Provokation war. Ein Ärgernis war für manche auch die Hexenausstellung, die vor allem eine Aufklärung zum Thema Frauen- und Hexenverfolgung war. (Anmerkung Jürgen Reif: es gab eine Ausstellung mit Veranstaltungen zu diesem Thema im Juni 1985). Ein Tölzer Lehrer sagte uns, wir sollten uns schämen, erst einmal für die „Lust“ und auch für die Sache mit den Hexen…

JR: Der Freundeskreis hat sich zu dieser Zeit noch jeden Freitag getroffen. Was ist da so passiert, über was wurde da so alles gesprochen?

JZ: Zunächst haben wir uns darüber ausgetauscht, wie alles finanziert werden sollte, welche Veranstaltungen wir planen wollen, wie wir wachsen können. Es gab ja ständig etwas zu planen. Und natürlich haben wir über unsere Vorstellungen von Kunst, von Kultur, über Politik und Philosophie geredet und gestritten. Wir waren ja ein Freundeskreis.

JR: Was waren in deiner Erinnerung herausragende Ereignisse dieser Anfangszeit?

JZ: Das Zusammenwachsen, das gemeinsame Musizieren, das Theaterspielen mit Toni Müller und auch mit den originellen Stücken von Jürgen Reif, die politischen Abende.Gut in Erinnerung ist mir das weltberühmte Gewandhaus-Streichquartett aus Leipzig. Zu dieser Zeit waren die Grenzen an der ehemaligen DDR noch geschlossen. Dass die reisen und zu uns kommen und in der Lust musizieren konnten, war für mich eine wertvolle Erfahrung.

JR: Der Freundeskreis hat ja Anfangs zumindest nach außen keine „Vorsitzenden“ oder etwas ähnliches gehabt. Wie funktionierte die Entscheidungsfindung?

JZ: Es gab oft große Diskussionen. Meist waren ja eigenständige Leute da, die auch ihre Vorstellungen durchsetzen wollten. Aber wir haben uns immer gefunden. Letztendlich wurde abgestimmt. Die Mehrheit hat entschieden. Für Leute, die neu dazukamen, war es nicht immer einfach, integriert zu werden. Oft hat sich keine, keiner zuständig gefühlt, Gastgeber zu sein.

JR: 1985 wurde intensiv die Gründung eines Vereins diskutiert. Warum war dies damals so hart umstritten und welche Position hast Du dabei vertreten?

JZ: Einerseits hat man die Notwendigkeit erkannt, dass es gerade nach außen einen Ansprechpartner braucht, dass vielleicht für bestimmte Aufgaben spezielle Personen, zum Beispiel dass jemand für die Finanzen zuständig war. Auch aus rechtlichen Gründen schien ein Verein sinnvoll. Ich selber war dagegen, auch andere glaubten an einen stabilen Freundeskreis, auch gab es Bedenken um Vereinsmeierei.

JR: Wer waren die ersten Vorsitzenden des neuen Vereins?

JZ: Ich erinnere mich an Barbara Basiner als erste Vorsitzende. Dann wechselten die Posten regel- oder unregelmäßig. Die Reihenfolge habe ich nicht im Kopf.

JR: 1988 schien die Zeit der „Lust“ zumindest in der Knabenschule abgelaufen zu sein. Die „Integrierte Gemeinde“, eine nach heutigem Wissen erzkonservative katholische Sekte, sollte das Gebäude kaufen. Die meisten Stadträte waren dafür. Wie wurde das von euch damals empfunden?

JZ: Wir und die Öffentlichkeit haben über die Integrierte Gemeinde nicht viel gewusst, aber natürlich waren wir sauer, dass die Stadt dieses alte, schöne Haus verkaufen wollte und dass wir gehen mussten. Es ging dann aber schnell und wir konnten einen Raum im der Alten Mädchenschule mieten. Das war natürlich alles kleiner und enger. Besser als nichts, wie wir fanden.

JR: Zeitgleich zur Mitarbeit in der „Lust“ hast du auch den „Winzererfilm“ initiiert. Filme, die auch aus heutiger Sicht richtungsweisend sind, aber nicht einmal in Großstädten ein Publikumsmagnet waren, wurden hier in Bad Tölz vor vollem Haus gezeigt. Ich denke da zum Beispiel an einen wunderbaren Film über das Tanztheater von Pina Pausch. Für viele eine Sensation. Wie hast du selbst das damals empfunden?

JZ: Ich war immer schon eine leidenschaftliche Kinogängerin, nicht erst seit meiner Freiburger Zeit. Ich habe die Filme meist auf Filmfestivals ausgewählt oder ich bin oft nach München gefahren, um an einem Abend zwei oder drei Kinos zu besuchen, um den „richtigen“ für uns zu finden. Ich habe mich durch Filmzeitschriften informiert. Es gab auch gelegentlich von außen wertvolle Tipps und Vorschläge für den monatlichen Film. Doch waren in den zehn Jahren „Winzererfilm“ im Tölzer Capitol die Zuschauer nicht immer nur angetan. Ich erinnere mich, dass während des Films von Andrej Tarkowskij OPFER oder bei Reinhard Hauffs Film STAMMHEIM bald die Hälfte der Zuschauer den Saal verließen. Auch ein Live-Auftritt von Herbert Achternbusch und Annamirl Bierbichler fand geteiltes Echo. Klar, das setzte mir zu, doch insgesamt hat mir das Filmeaussuchen und das Filmezeigen große Freude gemacht. Außerdem war die Zusammenarbeit mit dem Kinobesitzer immer gut.

JR: Wie war aus Deiner Sicht die Zusammenarbeit mir der Stadt in diesen Jahren?

JZ: Das war nicht nur einfach. Wolfgang Basiner, einer unserer Mitgründer, hatte damals mit der Stadt verhandelt. Er war Architekt, hat viel von Gebäuden und Vermietungen verstanden und er war außerdem ein ausgleichender Mensch – was mir nicht so leicht gefallen ist, ich war eher eine Kämpferin. Für die Veranstaltungen im Thomas-Mann-Park in der Heißstraße mit jeweils 500 Besuchern klopfte ich in der Stadt jedenfalls ziemlich umsonst an.

JR: Irgendwann hast Du Dich aus dem Kreis der Lust-Aktiven zurückgezogen. Kannst du aus heutiger Sicht die Gründe dafür schildern?

JZ: Ich war mit meiner Buchhandlung, mit den Winzerer-Veranstaltungen und mit dem Winzererfilm ausgelastet. Ich wollte auch gerne der damaligen politischen und bestimmenden Übermacht der CSU kulturell mehr entgegensetzen. Komplett verlassen habe ich die „Lust“ nie.

JR: Du hast vor einigen Jahren in deinem Haus im EichenGrund hochwertige Kulturveranstaltungen organisiert. Dürfen wir hier noch etwas erwarten?

JZ: Ich wünsche mir selber, den EichenGrund wieder zu beleben. Die Pandemie hat das unterbrochen, wie überall. Ja, vielleicht gibt es wieder den einen oder anderen Film, eine Lesung, ein kleines Konzert. Ich bin älter geworden, die Kraft für monatliche Aktivitäten ist abhanden gekommen.

JR: Wie siehst du die „Lust“ heute, welche Aufgaben gibt es, was wünscht du dem Verein?

JZ: Ich finde es sehr schön, dass der Kulturverein Lust – wie es scheint – immer noch sehr lebendig ist. Man kann es an der Website sehen. Dass es weiterhin so belebt bleibt, das wünsche ich dem Verein. Was gibt es schöneres, als eine Lust die 40 Jahre und länger anhält!

JR: Hanna, vielen Dank für das Interview!

Anmerkung: Das Interview wurde am 31.01.2023 in Bad Tölz geführt.